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Hier gibt's Leseproben zum Reinschnuppern!Bildergebnis für gif bücher


„Engel“ (2024)

Jessica fühlte sich, als ob ihr Kopf in einem Schlammloch steckte. Feucht, dumpf, alles braunschwarz und die Geräusche der Außenwelt wie in einem dichten Nichts erstickt. Die Geschehnisse der letzten Stunden kamen nur langsam und in zusammenhanglosen Fetzen in ihre Erinnerung zurück.

Ja richtig, ihre Fruchtblase war geplatzt und ihr Vater hatte panisch und hilfesuchend nach seiner Frau gerufen. Doch diese hatte sich keinen Millimeter von ihrem Fernsehsessel und ihrer Lieblings-Talkshow wegbewegt. Diese Ignoranz war nicht wirklich verwunderlich. Hatte sie ihrer Tochter doch schon während der Schwangerschaft unmissverständlich klargemacht, dass diese sich ab jetzt selbst um ihr „Problem“ zu kümmern habe.

»Wer in deinem Alter zu blöd ist beim Sex zu verhüten, muss auch mit den Konsequenzen leben«, hatte sie damals mit ihrer rauchigen Stimme gebrummt, als ihre siebzehnjährige Tochter mit dem positiven Schwangerschaftstest aus dem Badezimmer gekommen war. »Glaube ja nicht, dass ich dir irgendwie zur Seite stehe, wenn der kleine Bastard während der Schwangerschaft Probleme bereitet oder wider Erwarten das Licht dieser hässlichen Welt erblickt.«

Dann hatte sie tief an ihrer Zigarette gezogen und ihrer Tochter den Rauch mitten ins Gesicht geblasen. »Soll sich doch der unverantwortliche Vater darum kümmern, wenn du überhaupt weißt, wer es ist.«

Worte einer Frau, die ihren Hass auf sich selbst in unbändigen Hass auf jeden in ihrem Umfeld ausgeweitet hatte.

Worte einer Mutter, die nie wirklich eine gewesen war. Eine solche, die Jessica nie werden wollte.

Gerade in den letzten Monaten der Schwangerschaft, nachdem auch sie sich mit dem ungeplanten Ergebnis einer wunderschönen Nacht arrangiert hatte, war ihre Liebe und Fürsorge dem ungeborenen Leben gegenüber immer stärker geworden. Jessica wollte ihrem Kind die liebevolle Mutter sein, die sie selbst nie hatte. Das allein machte ihre Bande zu dem heranwachenden Leben in ihrem Körper noch stärker.

Von ihrer eigenen Mutter war also keine Unterstützung zu erwarten gewesen. Und auch wenn Jessicas Vater in seiner Panik ebenfalls keine große Hilfe gewesen war und ihre eigene Angst noch mehr geschürt hatte, so war er doch zumindest dagewesen und hatte sie ins Krankenhaus gefahren.

Jessica lag immer noch schweißgebadet in ihrem Krankenbett und versuchte die Erinnerungsfetzen zusammenzusetzen. Jetzt nahm sie auch die Hand wahr, die die ihrige fest umschlossen hielt. Es war nicht die grobe Hand ihres Vaters, auch nicht die ihres Freundes und Vaters des Neugeborenen. Es war eine kleine, zierliche Hand, die trotz ihrer Sanftheit Jessicas Hand fest drückte und alles Herzliche und Verständnisvolle, was mit einem Händedruck zu vermitteln war, ausdrückte.

Die junge Mutter öffnete langsam die Augen. Fast kam es ihr schmerzhaft vor, als sie das helle Neonlicht des Krankenhauszimmers blendete. Nur verschwommen nahm sie die Person war, die auf dem Bettrand saß und sie irgendwie mitleidig ansah.

Jetzt erinnerte sich Jessica an die Krankenschwester, deren Umrisse deutlicher wurden und das hübsche südländische Gesicht preisgaben. Sie war es gewesen, die sie in der Entbindungsklinik in Empfang genommen hatte und seitdem nicht mehr von ihrer Seite gewichen war. Jessicas Vater war schon am Eingang des Krankenhauses zusammengebrochen und sie hatte ihn seitdem nicht mehr gesehen. Ganz allein hatte sie sich ihren Wehen, den unablässigen Aufforderungen des medizinischen Personals, weiter zu atmen und den darauffolgenden Komplikationen ergeben müssen.

Schon zu diesem Zeitpunkt hatte die jugendliche Frau das Gefühl gehabt, ihr Kopf steckte in einem riesigen Wattebausch. Was auch immer ihr die Krankenschwestern gespritzt hatten, ihre Wahrnehmung hatte zusehends abgenommen. Als sie dann aber die Information erreicht hatte, das Baby hätte sich nicht gedreht für eine normale Geburt und die Herztöne seien unregelmäßig, hatte sie schon befürchtet, sie könnte das Kind verlieren und war augenblicklich hellwach gewesen. Aber die Ärzte hatten ihr versichert, alles würde gut werden, man müsste nur einen Notkaiserschnitt vornehmen. Dies sei aber für Mutter und Kind keine Gefahr, ein Routineeingriff. Auch bei dieser Nachricht hatte die hübsche Krankenschwester ihre Hand gehalten. Sie war tatsächlich die einzige, die ihr beistand. Wie eine große Schwester, wie Jessica sie sich immer gewünscht hatte. Gerade für solche Situationen.

»Frau Klarnow«, sprach eine fremde Stimme sie vorsichtig an. »Wie geht es Ihnen?«

Jetzt griff Jessica instinktiv nach ihrem Babybauch. Dieser war verschwunden, an seiner Stelle war ein Verband zu spüren und es schmerzte bei der Berührung.

War etwas schiefgegangen? Wo war ihr Kind? War es nicht üblich, dass man das Neugeborene seiner Mutter direkt übergab? Gut, sie wäre bisher nicht wirklich in der Lage gewesen, sich um das Kind zu kümmern, so weggetreten wie sie war. Aber trotzdem musste ihr kleiner Engel doch in ihrer Nähe sein. Aber sie sah und hörte nichts, was auf die Anwesenheit eines Babys hinwies.

Stirnrunzelnd und blinzelnd suchte sie den Absender der Frage und fand ihn am Bettende in einem weißen Kittel, der ihn unweigerlich als Arzt identifizierte.

»Wo ist mein Kind?«, presste sie heraus und nach dem vielen erfolglosen Pressen während der Wehen kam es ihr fast genauso anstrengend vor.

»Es gab Komplikationen«, erklärte der Arzt in einem Tonfall aus einer seltsamen Kombination aus Sachlichkeit und Mitgefühl.

»Das weiß ich«, raunte Jessica zurück, der dieses ewige Um-den-heißen-Brei-herumreden zuwider war. »Deswegen sollte ja ein Kaiserschnitt gemacht werden. Aber wo ist mein Baby?«

»Auch trotz des Kaiserschnitts gab es Komplikationen, Frau Klarnow. Es tut mir leid, wir haben Ihr Kind nicht retten können. Die Nabelschnur hatte sich…«

»Bitte was?«, schrie Jessica hysterisch. »Mein Baby ist tot? Warum haben Sie mich dann nicht gleich mit ihm gemeinsam sterben lassen?«

»Für Ihr Leben bestand zu keinem Zeitpunkt eine Gefahr«, versicherte der Doktor, diesmal mehr sachlich als mitfühlend. 

Dies konnte Jessica aber nicht davon abbringen lauthals zu schreien. Sie brüllte Worte der Verzweiflung, der Trauer, aber auch beleidigende Worte, die der Arzt und die Krankenschwester wortlos hinnahmen. Jetzt löste sich die warme Umklammerung ihrer Hand.

»Geben Sie ihr noch ein Milligramm Lorazepam«, versuchte der Arzt seine Aufforderung an die Krankenschwester gegen das Gebrüll der Patientin zu adressieren. Und an Jessica gerichtet sagte er; »Sie werden sich jetzt noch ein wenig ausruhen, Sie sind erschöpft und haben einen schweren Verlust erlitten. Erholen Sie sich und wir reden morgen nochmal in aller Ruhe miteinander.«

Es klang so, als hätte dieser Kurpfuscher diesen Satz schon unzähligen Patienten vor den Kopf geknallt und als sei es für ihn nur eine Erledigung einer unliebsamen Aufgabe. Er hatte Jessica ihr Kind genommen. Er hatte es verpfuscht. Nach all den Schwierigkeiten und Unverständnis in ihrer Familie, ihrem Ausbildungsbetrieb, der als Kinderarztpraxis ein wenig mehr Verständnis hätte aufbringen können, ja sogar in ihrem Freundeskreis, hatte sie sich so sehr gewünscht, dass sie jetzt all ihre Liebe und Aufmerksamkeit ihrem kleinen Engel schenken konnte. Ihrer ganzen Hoffnung. Aber diese Hoffnung hatte man ihr jetzt genommen.

Jessica merkte, wie das Sedativum Wirkung zeigte und ihre Umgebung langsam wieder undeutlich wurde. Die Krankenschwester war aufgestanden. Auch sie murmelte etwas von ausruhen, dann verließ sie das Krankenzimmer.

Jessica war allein.

Sie dachte an ihren Freund, ihre vielen gemeinsam verbrachten Stunden, das gemeinsame Lachen, die Nacht, in der sie sich vereint hatten, voller Zärtlichkeit und Liebe. Er hatte auch die Nachricht nach anfänglichem Schock gut verarbeitet und ihr versprochen, sich um sie und ihr gemeinsames Baby zu kümmern. Enrico wollte sie nicht im Stich lassen. Ja, er hatte sogar versprochen, sie zu heiraten.

Wo war er also?

Jetzt, wo sie ihn am meisten brauchte.

Aber er wusste wahrscheinlich nicht einmal, dass sie hier war. Sie hatte ihn nicht informieren können und Jessicas überforderter Vater und ihre gehässige Mutter mit Sicherheit auch nicht. Auch Enrico wohnte noch bei seinen Eltern, in deren Autowerkstatt er eine Lehre zum Mechatroniker machte.

Sie würde ihn gleich morgen früh nach dem Aufwachen anrufen. Heute war es ihr nicht mehr möglich, der Schlaf würde sie in den nächsten Sekunden übermannen und sie glaubte nicht ihr Mobiltelefon bedienen zu können, oder es überhaupt erst einmal zu finden.

Die Nacht musste sie also alleine verbringen, wie so oft. Nun aber auch ohne ihr Baby.

Tränen liefen Jessica über die Wangen und nässten das Kopfkissen. Ihr Blick wurde dadurch noch weiter getrübt.

Plötzlich hörte sie ein Geräusch, es klang wie das Quietschen einer Schranktüre. Sie öffnete noch einmal ihre Augen, trotz aller Schwere ihrer Lider. Das Geräusch war aus der Nähe der Zimmertüre gekommen. Sie drehte ihren Kopf in diese Richtung.

Kletterte da gerade ein Junge aus dem Schrank?

Sie blinzelte einige Male, aber sie war sich sicher, er schaute ihr direkt in die Augen. Er war kaum jünger als sie selbst, hatte hellbraune Haut, leuchtend blaue Augen und ein sanftes Gesicht. Er sah aus wie ein Engel. Dann zwinkerte er ihr zu, drehte sich um und verschwand lautlos. Der Engel war davon geschwebt.

War das der Geist ihres toten Kindes?

Oder eine Halluzination aufgrund der Medikamente, die man ihr gespritzt hatte?

Aber es sah so real aus, warum sollte sie sich das einbilden?

Ohne den Blick von der Türe zu lassen, tastete Jessica nach dem Notknopf, aber fand ihn nicht. Ihre Arme wurden immer schwerer. Auch wenn sie hoffte, der Engel käme noch einmal zurück und schenkte ihr einen weiteren Blick der Hoffnung, fielen ihre Augen erneut zu und dann kam das dunkle Schlammloch zurück, in das sie eintauchte und das alles um sie herum verschluckte.



 

„Game Over“ (2022)

Als Flo erwachte, kam es ihm vor, als läge er tief in unzähligen wattigen Kopfkissen versunken. Alles um ihn herum erschien ihm dumpf und grau. Nur langsam, noch langsamer als gewöhnlich, kam er zu sich und öffnete schwerfällig seine Augen. Sie brannten beim Öffnen und waren trocken, als ob er über keine Tränenflüssigkeit mehr verfügte. Blinzelnd blickte er sich um und musste feststellen, dass er zwar nicht in Watte gehüllt war, obwohl es sich so anfühlte, das Grau um ihn herum allerdings durchaus real war. Die Augen schmerzten, aber so langsam wurden sie wieder feucht. Im Gegenteil, jetzt tränten sie sogar über alle Maßen.

Instinktiv tastete er nach seinem Handy, erst in seiner Tasche, dann auf einem nicht vorhandenen Nachttisch. Es schien nicht in Reichweite zu sein. Wie spät mochte es sein? Und wo zum Teufel befand er sich?

So langsam und verschwommen wie die Bilder um ihn herum, kamen auch seine Erinnerungen zurück. Das Hotelzimmer in der Nacht, die hereinstürmenden Polizisten und seine Festnahme. Auch die Bilder seines Abtransports in der schwarzen Limousine und die offensichtliche Betäubung durch eine Spritze in den Nacken kehrten in sein Gedächtnis zurück.

Flo griff unwillkürlich nach der Stelle, an der er den Einstich vermutete und wo es jetzt, als er daran dachte, juckte. Er spürte ein Pflaster und riss es ab, um es sich anzusehen. Wie nach einer Blutabnahme beim Arztbesuch befand sich ein winziger Blutfleck auf dem Pflaster, sonst war da nichts. Nur die Stelle im Nacken fühlte sich seltsam an, wie eine kleine Beule auf der Haut. Wahrscheinlich eine Reaktion auf die Spritze.

Aber warum hatte man ihn derart außer Gefecht setzen müssen? Von so einem Vorgehen hatte er noch nie gehört, auch nicht in den Vereinigten Staaten, wo die Polizeimethoden sicher rigoroser und gewalttätiger waren als in Deutschland. Aber er hatte sich doch gar nicht gewehrt und sich brav an die Anweisungen der Beamten gehalten. Noch nicht einmal seine Nachfrage nach dem Grund der Verhaftung hätte man seiner Ansicht nach als Protest verstehen dürfen.

Flo runzelte die Stirn bei seiner Erinnerung an die Geschehnisse der letzten Nacht. War es überhaupt die letzte Nacht? In seinem dämmrigen Zustand hatte er jegliches Zeitgefühl verloren. Es wäre nicht verwunderlich, hätte man ihn für längere Zeit aus dieser Welt gespritzt.

Jetzt zeigten auch seine Augen wieder ein halbwegs klares Bild seiner Umgebung, obwohl dort nicht viel zu sehen war. Er befand sich ohne Zweifel in einer Gefängniszelle, auch wenn sie nicht so aussah, wie man das landläufig vermutete. Etwa vier Quadratmeter groß, mit einer Pritsche, auf der er lag, samt einer dünnen Matratze und einer Baumwolldecke, sowie einem Kopfkissen. Sonst nichts. Noch nicht einmal eine Toilettenschüssel gab es hier. Ebenso kein Fenster, lediglich eine Deckenlampe strahlte ihr kaltes LED-Licht in die winzige Zelle, die zwar sauber war, aber dennoch nicht gerade einladend. Die Stahltüre hatte ein kleines Gitterfenster, durch das man auf den Flur blicken konnte. Seiner Zelle gegenüber befand sich allerdings nur das Pendant dazu, ebenfalls eine verschlossene Stahltüre, so wie auch links und rechts davon. Weiter konnte er den Flur nicht einsehen.

Über der Türe konnte Flo eine kleine Kameralinse ausmachen. Hätte er nicht ähnliche kleine Kameras wie diese während seiner Tätigkeit beim Fernsehen kennengelernt, wäre er wahrscheinlich nie auf die Idee gekommen diese als solche zu erkennen. Für den Laien hätte dies auch einfach eine Niete oder Schraube im Stahlrahmen der Türe sein können.

Vom Flur her zog ein seltsamer Geruch durch das Gitterfenster. Flo konnte erst gar nicht bestimmen, was das war. Es erinnerte ihn spontan an den Umzug in das neue Haus seines Stiefvaters und an sein Zimmer, dass der ihm fremde Mann für ihn renoviert hatte. Und in hellblau gestrichen. Eine Farbe die der damals siebzehnjährige Teenager überhaupt nicht gemocht hatte.

Ja, genau das war der Geruch – frischer Putz und frische Farbe! Es roch, als wäre hier vor nicht allzu langer Zeit verputzt und gestrichen worden. Und so sah es bei genauerem Hinsehen auch in der Zelle und auf dem Flur aus. Nicht verschmutzt oder abgenutzt, sondern frisch renoviert.

Nachdem auf dem Flur niemand zu sehen war, stellte sich Flo vor die Überwachungskamera und winkte.

»Ich muss mal auf die Toilette«, rief er, in der Hoffnung, dass auch irgendwo ein Mikrofon installiert war, oder man ihn über den Flur hören konnte.

»Hallo?«, schrie er nochmal, jetzt etwas lauter, nachdem sich nichts rührte.

Es dauerte noch zwei weitere Versuche und mehrere Minuten, bis er das Summen eines Türöffners und dann endlich Schritte auf dem Flur hörte. Kurz danach erschien das kantige aber durchaus gutmütig wirkende Gesicht eines Farbigen im Gitterfenster der Türe, das Flo aufforderte, von der Türe zurückzutreten, dann wurde offenbar ein Code eingegeben und mit einem Piepen quittiert, das den Türriegel zurückfahren ließ.

Als die Türe geöffnet wurde, stand dahinter ein Riese von einem Mann. Mindestens zwei Meter groß und mit Muskeln bepackt, die seine Gefängniswärteruniform fast zu sprengen schienen. Auf einem Namensschild unter einer Marke mit einer Art Sheriffstern stand „Atlas“.

Der Schwarze winkte Flo zu sich, die andere Handan einem schweren Schlagstock, der an seinem Gürtel hing. Die respekteinflößende Statur und sein versteinerter Gesichtsausdruck ließen trotz der vermeintlich freundlichen Fassade keinen Zweifel daran, dass der Beamte seine Waffe schnell und effektiv einsetzen würde, wenn es auch nur den geringsten Anlass dazu gäbe.

»Ich muss mal«, wiederholte Flo eingeschüchtert und trat nach einem weiteren Winken des Wärters vorsichtig aus seiner Zelle in das grelle Licht des Korridors. Tatsächlich war der Druck auf seiner Blase zwar da, es war aber bei Weitem nicht so dringend, wie er vorgab. Vielmehr wollte er wissen, wo er überhaupt war und was mit ihm passierte.

Demzufolge versuchte er sein Glück bei dem Hünen, der hinter ihm her stapfte, nachdem er seinem Gefangenen Handschellen angelegt und den Weg zur Toilette gedeutet hatte. Flo drehte sich zu seinem Bewacher um und setzte ein freundliches Lächeln auf. So freundlich man eben unter diesen widrigen Umständen noch schauen konnte.

»Wo bin ich hier und was wird mir vorgeworfen? Kann ich mit einem Verantwortlichen sprechen oder mit einem Anwalt?«

Der Schwarze namens Atlas schwieg jedoch und deutete lediglich auf die Türe zu den Waschräumen, als sie davor zum Stehen kamen.

Dann brummte er mit dem tiefsten Bass, den Flo jemals gehört hatte: »Klein oder groß?«

Der junge Mann starrte seinen hünenhaften Bewacher fragend an.

Atlas deutete auf Flos Handschellen. »Wenn du nur ein kleines Geschäft zu erledigen hast, lass ich die an. Ich muss ja wohl nicht mit reinkommen, oder? Also mach keinen Scheiß und beeil dich. Ich warte hier.«

Flo wusste, von dem Wachmann war nichts zu erwarten, was einer Klärung seiner Situation zuträglich gewesen wäre. Also ging er ohne weitere Fragen gemäß Atlas‘ Aufforderung auf die Toilette. Die ganzen Waschräume samt den Toiletten waren blitzeblank. Entweder waren sie hier nie benutzt worden oder ständig gereinigt, was Flo sich beides nicht vorstellen konnte. Oder aber man hatte den ganzen Bereich erst kürzlich neu installiert. Generell schien alles hier neu oder neu renoviert zu sein. Die Zelle, der Flur, der Nassbereich. Nun, bei allem Unglück, das Flo gerade widerfuhr, war es wenigstens ein Trost, dass er nicht in einem völlig verdreckten Loch gelandet war, unter hygienisch unzumutbaren Zuständen. Das hatte er im Fernsehen schon mehrfach gesehen und war bisher der Meinung gewesen, dass jemand, der im Gefängnis sitzt, nicht auch noch unter besten Verhältnissen einsitzen sollte. Schließlich kamen doch normalerweise nur Verbrecher in den Knast und hatten ihren Anspruch auf Luxus verwirkt.

In seinem Fall war er dankbar, dass das hier scheinbar nicht so war.

Während er seine Notdurft verrichtete, dachte Flo angestrengt nach. Niemand konnte oder wollte ihm sagen, warum er ins Gefängnis gebracht worden war. Weder die, die ihn verhaftet hatten, noch die, die ihn bewachten.

Das durfte doch nicht sein.

Er ging davon aus, dass ihm irgendein Verantwortlicher heute sagte, was man ihm vorwarf und wie es weiterging. Schließlich musste ihm ein Anwalt gestellt werden und er musste doch auch seine Familie in der Heimat informieren können.

Er dachte an seine Mutter. Vielleicht war es sogar besser, wenn sie nichts davon erfuhr. Zumindest so lange, bis er wusste, was mit ihm geschah. Sie würde sonst einen Herzanfall bekommen.

Flo trat wieder auf den Flur hinaus, wo Atlas ihn mit unveränderter Miene erwartete. Er zeigte mit dem Finger den Flur entlang in die Richtung, aus der sie gekommen waren.

»Könnte ich bitte mit jemandem sprechen«, startete er einen erneuten Versuch den Wachmann zu erweichen, ahnte aber, dass diesen das wenig beeindruckte.

Er blickte sich um und sah in das Gesicht des Schwarzen, das wie eine Maske wirkte und starr nach vorne gerichtet war. Nur seine Augen bewegten sich und nahmen jede kleinste Bewegung wahr, die der Gefangene machte, jederzeit bereit zu reagieren.

Flo schüttelte enttäuscht den Kopf und sah den Flur entlang. Tatsächlich gab es hier zehn dieser Stahltüren, die in irgendwelche Zellen führten. Jetzt vernahm er auch andere Stimmen, die durch die Gitterfenster drangen. Verschiedene Sprachen oder akzentuiertes Englisch, Gemurmel, sowie Rufe nach einem Wärter, ähnlich derer, die Flo vor einigen Minuten getätigt hatte. Offenbar schien der ganze Bereich langsam wach zu werden.

Vor seiner Zelle angekommen, entfernte Atlas die Handschellen von Flos Handgelenken. Er gab neben der Türe den entsprechenden Zahlencode ein und der Riegel öffnete sich voll elektronisch, aber dennoch mit lautem, metallischem Schleifen.

»Du wirst gleich geholt«, brummte er und nickte unmerklich. Dann schloss er die Türe und drückte einen Knopf. Mit einem Piepen schob sich der Riegel vor und verschloss die Türe.




„Der Stier im roten Mantel“ (2020)

auch als Hörbuch:
www.youtube.com/watch

»Schnell, Cassiel. Nimm Mava, lauft hoch in Euer Zimmer und versteckt Euch!«

Die Angst und Besorgnis in der bebenden Stimme seiner Mutter beflügelten die Schritte des zehnjährigen Jungen mit den pechschwarzen Locken. Er nahm jeweils zwei Stufen auf einmal beim hastigen Aufstieg in den zweiten Stock und zog seine kleine Schwester hinter sich her, die Mühe hatte, Schritt zu halten.

Das brachiale Hämmern an der Ladentüre im Erdgeschoss und die Stimmen der Männer draußen klangen furchteinflößend. Schon seit Wochen war die Familie auf der Hut und seine Mutter hatte ihren Mann immer wieder angefleht, ihr Haus in Paris zu verlassen. Doch Cassiels Vater war nicht bereit gewesen, seine Pfandleihe und das Heim mit all seinen Wertsachen aufzugeben.

»Sie werden kommen und uns Alles nehmen«, hatte die Mutter wiederholt gewarnt. »Und wir werden dann mit Sicherheit weggebracht, wie all die Anderen. Sacharja, bitte! Denk doch an uns, denk an Deine Kinder.«

»Halt den Mund und hör auf zu jammern, Athalia!«, hatte dann der Vater stets erwidert. »Ich werde nicht unser Zuhause aufgeben, das ich uns in all den Jahren aufgebaut habe. Wir sind angesehene und wohlhabende Bürger dieser Stadt, haben einflussreiche Freunde und Verwandte. Uns wird nichts geschehen. Sie werden es nicht wagen, uns etwas wegzunehmen. Kapitulation der Politiker hin oder her.«

Nicht selten hatte Cassiels Vater seine klare und unumstößliche Meinung mit einer kräftigen Ohrfeige unterstrichen. Er war nie zimperlich oder sparsam gewesen im Erteilen körperlicher Züchtigung, weder seiner Frau, noch ihren Kindern gegenüber. Cassiel hasste seinen Vater dafür. Oft saß er mit seiner Schwester Mava und seiner geliebten Mutter eng umschlungen und sie weinten gemeinsam, ob der harschen Gewalt, die sie alle drei so häufig erfuhren.

In diesem Moment aber hatte Cassiel mehr Angst vor den Männern auf der Straße da draußen, als vor seinem Vater. Offenbar hatte dieser sich geirrt in der Annahme, verschont zu werden. In den letzten Tagen hatte man immer wieder von Übergriffen der Soldaten auf Menschen und Häuser in den umliegenden Straßen des Pletzl, dem jüdischen Viertel mitten im Pariser Marais, gehört. Was allerdings genau passiert war, hatte man nirgendwo erfahren können. Die Menschen blieben verschwunden und ihre Häuser leer. Alles, was Wert hatte, hatten die Uniformierten mitgenommen. Seit der Sprengung der großen Synagoge im letzten Jahr terrorisierten die fremden Soldaten die Gegend und raubten ihre Bewohner rücksichtslos und unersättlich aus.

Und jetzt kamen sie augenscheinlich in das Haus der Familie Schagal.

Gebannt stand Cassiel am Eingang zu seinem Zimmer und lauschte durch den offenen Türspalt nach unten. Er konnte zwar nichts sehen, aber die lauten Stimmen im Erdgeschoss waren nicht zu überhören. Sein Vater hatte die Ladentüre geöffnet und die Männer waren gleich zu mehreren hineingestürmt. Die schweren Schritte der robusten Soldatenstiefel auf dem Holzboden ließen das ganze Haus vibrieren.

Eine rauchig klingende Stimme schrie die Eltern in Französisch mit einem hart klingenden Akzent an: »Sind Sie der Pfandleiher Sacharja Schagal?«

Nach einer kurzen Pause, in der sein Vater wahrscheinlich genickt hatte, donnerte die Stimme weiter: »Wie viele Leute befinden sich im Haus?«

Auf die zögerliche Antwort der Mutter, dass sie alleine seien, befahl der Offizier seinen Männern irgendetwas, das Cassiel nicht verstand. Das also war Deutsch, die Sprache der Besatzer. Schon hörte er die schweren Stiefel die Treppe hinauf poltern. Während sich mindestens vier Soldaten im ersten Stock umsahen, wo sich die Küche, das Wohnzimmer und das Arbeitszimmer seines Vaters befanden, stürmten noch einmal ebenso viele Männer nach oben zu den Schlafräumen.

»Schnell, Mava!«, flüsterte Cassiel und öffnete seiner Schwester den Deckel einer Spielzeugkiste, in die sie hineinschlüpfen sollte. Er selbst sprang danach in den Kleiderschrank, zog die Türe bei und ließ sie nur noch einen winzigen Spalt offen, um gerade noch hindurch spähen zu können.

Während die Männer in das Zimmer drangen, hörte der Junge von unten den kurzen Protest seines Vaters, dann einen Schuss und daraufhin das entsetzte Schreien seiner Mutter. Cassiel presste die Lippen zusammen und versuchte die Tränen zu unterdrücken, die ihm in die Augen schossen. Dabei beobachtete er durch den Spalt, wie Mava weinend aus der Kiste sprang und nach ihrer Mutter rufend zur Tür lief. Sofort wurde sie von einem Uniformierten ergriffen und nach unten gebracht. Kurz war der Junge versucht, ebenfalls seine Deckung aufzugeben, brachte aber nicht den Mut dazu auf. Die Männer wiederum beachteten sein Versteck nicht und folgten dem Kameraden nach unten. Schweigend und in sich hinein wimmernd presste Cassiel verzweifelt Mund und Augen zu und versuchte einzuschätzen, was da in seinem Haus vor sich ging.

Auch wenn er selbst nichts davon verstand, geschweige denn den Wert der Einrichtungs- und Kunstgegenstände und der zahlreichen Gemälde an den Wänden erachten konnte, so wusste er doch aus Gesprächen seiner Eltern untereinander und seines Vaters mit Geschäftspartnern, dass der Wert der Kunstwerke im Haus beachtlich sein musste. Und genau darauf hatten es die deutschen Soldaten offenbar abgesehen. Cassiel interessierten diese Dinge nicht, er hoffte jetzt nur, dass die Fremden schnell das Haus wieder verließen, seine Mutter ihn aus dem Schrank herausholte und tröstend an sich drückte.

Aber nichts dergleichen passierte. Die Fremden hatten offenbar alles, was sie interessierte, nach unten gebracht. Zu hören waren neben dem Stiefelgetrampel nur die lauten Befehle des Offiziers.

Vorsichtig drückte Cassiel die Schranktüre auf und stieg leise aus seinem Versteck. Er sah sich um. Auch das Bild, das im Kinderzimmer hing, hatten sie mitgenommen. Obwohl es sein entfernter Onkel Marc gemalt hatte, der jetzt ein berühmter Künstler war, mochte sein Vater das Bild nicht, denn es war ihm zu modern. Es hatte grelle Farben und zeigte einen Mann im roten Mantel mit einem Stierkopf und verdrehten Beinen. Es sah völlig verrückt aus, wie aus einem seltsamen Traum. Aber irgendwie schön und faszinierend. Die Kinder liebten das Bild. Deswegen hatte es Cassiel in ihrem Zimmer aufhängen dürfen.

Aber nun war es weg.

Der Junge schlich zur Türe und auf den Flur hinaus. Unten hörte er, wie der Offizier hämisch lachte. Die Worte, die ihm ein Untergebener zurief konnte er nicht verstehen.

»Eine wahre Goldgrube, Herr Hauptsturmführer. Wie Sie vermutet hatten.«

»Ja«, schnaubte der Offizier, »das wird den Standartenführer freuen. Da kann er dem Reichsleiter Rosenberg wieder etwas Positives berichten. Packt alles auf den Laster und passt auf, dass nichts beschädigt wird. Dann verschwinden wir. Und die Frau hier verfrachten wir samt Tochter nach Drancy zu den anderen Drecksjuden.«

Dann forderte er seine Mutter auf Französisch auf, ihren Mantel anzuziehen.

Cassiel war inzwischen leise in den ersten Stock hinabgestiegen und spähte durch das Treppengeländer in den Geschäftsraum im Erdgeschoss. Hier hatten die Uniformierten, genau wie in der Wohnung oben, ganze Arbeit geleistet. Die Regale standen leer, alles war ausgeräumt und die Männer brachten einen Kunstgegenstand nach dem anderen nach draußen. Sogar der Safe hinter dem Verkaufstisch, der sich normalerweise hinter einem Bild befand und mit viel Geld gefüllt war, stand offen und war ebenfalls geleert worden. Jetzt erst bemerkte der Junge das Bein, das hinter der Theke hervorlugte. Er erkannte die gestreifte Hose seines Vaters und die Blutlache, in der er lag.

In diesem Augenblick ergriff ein Soldat grob den Arm seiner Mutter und führte sie hinaus. An ihre andere Hand klammerte sich weinend Mava und drückte eine Stoffpuppe an sich. Cassiel wollte laut rufen, aber er brachte keinen Ton über die Lippen. Er starrte nur völlig reglos seiner Mutter nach, die sich in diesem Moment umdrehte und mit feuchten Augen zu ihm nach oben schaute. Er war sich sicher, dass sie ihn direkt ansah und ihm unmerklich zunickte. Ein Blick, der ihn völlig hypnotisierte. Der ein Flehen und eine traurige Hilflosigkeit ausdrückte und gleichzeitig so viel Mitgefühl und unendliche Liebe. Er wusste zu diesem Zeitpunkt nicht, dass dieser Blick das Letzte war, das er je von ihr sehen würde.

Kurz darauf waren die Soldaten verschwunden, mit seiner geliebten Mutter und Schwester. Sie hinterließen einen toten Vater inmitten seiner geplünderten Schatzkammer und einen einsamen Zehnjährigen, der sich wie versteinert an das Treppengeländer klammerte und bitterlich weinte.

Nach einer gefühlten Ewigkeit stieg Cassiel hinab und beugte sich über den Leichnam seines Vaters. Hass, gepaart mit purer Verzweiflung, überkam ihn.

»Warum nur hast du mir das angetan?«, schrie er den Toten verächtlich an und spuckte auf ihn herab. »Warum hast du nicht auf Mutter gehört? Wir hätten längst in Sicherheit sein können, aber du wolltest deine Reichtümer nicht aufgeben, du verdammter Egoist. Jetzt ist Mama weg und Mava, und mich hast du auch allein gelassen.«

Noch einmal spuckte Cassiel aus und dicke Tränen liefen ihm über die rotglühenden Wangen.

»Aber ich werde nicht ruhen, bevor ich nicht meine Mutter und meine Schwester wiedergefunden habe. Und all unseren Besitz. Nicht um deinetwegen, sondern um meinetwegen.«

Dann drehte sich der Junge dem Fenster zu und streckte seine zitternde, aber geballte Faust in die Luft, als hätte er bereits einen Sieg errungen.

»Eines Tages werde ich der Triumphierende sein, das schwöre ich bei Mosche und dem allmächtigen Gott!«



 

„…und ich will nicht gnädig sein“ (2018)

»Was hast du nur getan?«

Die Stimmen und Schreie, sowie das Gemurmel wurden immer lauter. Langsam nur kamen das Bewusstsein und damit auch die Erinnerungen zurück. Er schwitzte und seine Hände fühlten sich warm und klebrig an. 

Was war bloß geschehen? Er konnte sich an nichts erinnern, die Rückkehr erfolgte wie aus einem schwarzen Loch. Nur Stück für Stück lichteten sich die dichten Nebel. Begonnen hatte alles am späten Abend…

Ihre Augen hatten gefunkelt wie Feuer und ihre Lippen rot geleuchtet wie lodernde Glut. Sie hatte nur einmal kurz aufgeschaut und ihm einen schüchternen Blick geschenkt, da war es auch schon um ihn geschehen. Schnell hatte das Mädchen seinen Kopf wieder gesenkt und sich auf die silberne Teekanne konzentriert, die sie in ihren zarten Händen gehalten hatte. Aber dieser winzige Moment, indem sich ihre Blicke gekreuzt hatten, hatte genügt, um ein inneres Feuer in ihm zu entfachen. Schon im Laufe des Abends hatte er das Mädchen verstohlen beobachtet, wie es mit seiner Mutter das Essen für die Gäste herbeigebracht hatte. Ihr Vater hatte der kleinen Gruppe seine Kinder vorgestellt. Ceren, die in wenigen Tagen achtzehn werden sollte und ihr zwei Jahre jüngerer Bruder Cemil waren sein ganzer Stolz gewesen. Trotz des verhüllten Kopfes und der weiten Kleidung hatte das Mädchen die Ausstrahlung einer orientalischen Prinzessin gehabt. Ihr Name, der soviel wie Rehkitz bedeutete, kam nicht von ungefähr, in ihren großen, schwarzbraunen Augen konnte ein Mann versinken. Und ihr schamhaftes und schüchternes Verhalten hatte eine besondere Anziehungskraft auf ihn ausgelöst. Aber dieser eine Blick, den sie nur ihm allein geschenkt hatte, war wie ein warmer Stich in sein Herz gewesen und ihm war von einem Moment auf den anderen unfassbar heiß geworden.

 Natürlich hatte er schon die eine oder andere Freundin gehabt, aber nie etwas Ernstes. Er war, nach seinen eigenen Worten, noch in der Testphase gewesen. Dieses ruhmreiche Gefühl von Liebe, von dem immer alle erzählten, bei dem einem heiß und kalt gleichzeitig wurde, bei dem man so verletzlich war und sich doch für unbesiegbar hielt und bei dem sich Mundtrockenheit und unkontrollierbares Sabbern in hoher Frequenz abwechselten, das hatte er noch nie empfunden. Aber jetzt plötzlich, mit diesem einen Augenaufschlag, hatte er ein inneres Gefühl der Behaglichkeit gespürt, das er bislang noch nicht gekannt hatte. War dieses fremde und plötzlich doch so vertraut wirkende Geschöpf etwa seine Seelenverwandte gewesen, seine göttliche Ergänzung, der berühmte Deckel, der auf den Topf passte?

Ein fester Griff an seiner Schulter hatte ihn aus seinen verrückten Gedanken gerissen.

»Nicki! Was sagst du dazu? Ein Schnäpschen in Ehren,…! Oder willst du weiter die Tochter unseres Gastgebers so gierig anstarren? Ich glaube, der findet das nicht so toll!«

Benny, dessen große und massige Hand immer noch die Schulter gedrückt hielt, hatte lauthals aufgelacht und alle in der Runde hatten mit eingestimmt. Bis auf Youssouf, den besagten Vater des Mädchens, das den Raum inzwischen wieder verlassen hatte. Dieser hatte Nick mit festem Blick in die Augen gesehen und Falten waren auf seiner Stirn erschienen. Man hatte förmlich seine Gedanken lesen können. »Finger weg!«, war dort deutlich zu erkennen gewesen.

Nick hatte verstohlen zur Seite geblickt und sich verlegen dem Gelächter seiner Freunde angeschlossen.

»Also, was ist?«, hatte Benny weitergebohrt.

»Wenn man uns schon ein hiesiges, traditionelles Getränk anbietet, darf man doch nicht ablehnen. Außerdem bin ich diesen ewigen schwarzen Tee langsam leid.«

Django und Fetty hatten heftig genickt und auch die meisten Anderen hatten sich sichtlich auf den Raki gefreut, den Youssouf zum Abschluss des einfachen aber köstlichen Mahls angeboten hatte.

»Haydi!«, hatte er gerufen und in die Hände geklatscht, sich dann zu seiner Rechten geneigt, wo sein Sohn Cemil gesessen hatte. Nur ein paar türkische Worte und der Junge war sofort aufgesprungen und zur Tür gelaufen. Als seine Mutter und seine schöne Schwester mit zwei Flaschen und einem Tablett voller Gläser hereingekommen waren, hatte er Ceren ihre Last schon an der Türe abgenommen und sie sofort wieder hinaus geschickt. Nick hatte das Geschehen genau beobachtet und auch den Grund dafür erahnt. Offenbar hatte er doch zu eindeutig und intensiv das Mädchen angestarrt und der Vater hatte ein weiteres Tauschen verbotener Blicke verhindern wollen. Im Türrahmen hatte sich Ceren noch einmal umgedreht und zu Nick hinüber gesehen. Aus ihren Augen war das Feuer verschwunden gewesen, ängstlich hatte sie sich das untere Ende des Tuchs, das sie auf dem Kopf trug, vor das Gesicht gehalten. Dann war sie verschwunden.

Cemil hatte den Inhalt der beiden Flaschen komplett geleert und auf elf hohe Gläser verteilt. Dann hatte er jedem Gast sowie seinem Vater ein Glas gereicht und eines für sich behalten.

»Serefe!«, hatte Youssouf freundlich gerufen und sein Glas erhoben.

»Serefe!«, war die Antwort aller Anderen gewesen und man hatte sich zugeprostet.

Jenny und Vicky hatten gleich ihre Gesichter verzogen, auch Brille schien nicht begeistert zu sein. Django und Fetty hatten einen großen Schluck Raki genommen, Benny und Nick ihr Glas in einem Zug geleert, so wie sie es bei ihrem türkischen Reiseführer Can gesehen hatten.

Nur der Pole hatte noch nicht probiert und gegrölt:

»Macht mir erst mal das Glas voll. Für so ein Schlückchen lohnt es sich ja gar nicht anzusetzen!«

Er wurde nur der Pole genannt, denn dort kam er her und war offenbar schon mit Vodka großgezogen worden. Alkohol aus kleinen Schnapsgläsern hatte er grundsätzlich verweigert und unter zweihundert Milliliter Schnaps gar nicht erst angefangen zu trinken. Da ihn sein Gastgeber freundlich, aber mit bestimmter Miene angesehen hatte, hatte er der deutlichen, unausgesprochenen Forderung Folge leisten wollen und sein Glas in einem Zug geleert. Schlucken war ihm dabei scheinbar völlig fremd gewesen, der Raki war einfach direkt in die Kehle geflossen.

Youssouf hatte ihm mit einer gewissen Hochachtung zugenickt und Cemil losgeschickt, um Nachschub zu holen. Nicks Blick war hoffnungsvoll zur Tür gewandert, aber sein innerer Wunsch, Cerens Blick noch einmal zu erhaschen, war unerfüllt geblieben. Ihr wurde an diesem Abend offenbar der weitere Zutritt zu diesem Raum verwehrt.

»Ich glaube, jetzt hat unser Gastgeber deine Herausforderung angenommen, Pole«, hatte Can gerufen und gelacht, als Cemil zurückkehrt war, die Arme vollgepackt mit Raki-Flaschen.

Can hatte die kleine Reisegruppe in der letzten Woche auf ihren Eseln durch die sommerliche Hitze Kappadokiens geführt. Er war ein stämmiger, kräftiger junger Mann gewesen und hatte bei jeder Gelegenheit betont, dass der Ausspruch ’stark wie ein Türke’ von ihm abgeleitet worden sein musste. Can hatte täglich Proviant besorgt, sowie mehr oder weniger sichere Schlafplätze unter freiem Himmel und der kleinen Reisegruppe die größtenteils unentdeckten Schätze des türkischen Hinterlandes gezeigt. Fernab der Touristenrouten waren sie auf Trampelpfaden unterwegs gewesen, hatten sich allabendlich ihr verdientes Süppchen gekocht und ihre Lagerstätten gebaut, wobei sie jedes Mal rund um den Schlafsack einen kleinen Erdwall anzuhäufen hatten, um so Skorpione und andere Kriechtiere davon abzuhalten, in die Schlafsäcke zu krabbeln. In der Nähe von Göreme hatten sie nun ihre letzte Station auf dem Hof von Youssouf erreicht. Hier würden sie noch eine Übernachtung genießen, dann sollte am darauffolgenden Tag der lange Fußmarsch zurück nach Nevsehir folgen, wo sie abends den Bus nach Ankara nehmen würden, von wo aus es dann am nächsten Morgen zurück nach Deutschland ging.

Es war ein Abenteuerurlaub, den sie sich gönnen wollten, bevor der Ernst des Lebens anfangen sollte. Die Freunde Benny und Nick hatten alles organisiert, es sollte der gemeinsame Abschluss der Schulzeit nach bestandenem Abitur sein. Doch viele ihrer Clique hatten dann doch noch einen Rückzieher gemacht. Den einen war es zu anstrengend erschienen, den anderen zu teuer, und wieder andere hatten noch kompliziertere Ausreden gefunden. Übrig geblieben waren noch Fetty, der seinen passenden Spitznamen mit Würde ertragen konnte, Vicky und Django, die eigentlich lieber zu zweit einen amourösen Urlaub verbracht hätten, sich aber dann doch noch hatten breitschlagen lassen und Jenny, die sich zwar vor allem ekelte, aber so in Nick verliebt gewesen war, dass sie ihm überall hin gefolgt wäre. Allerdings hatte sie sich nie getraut, ihm ihre Zuneigung zu gestehen. Dann war da noch Brille gewesen, ein Außenseiter, der immer dazugehören wollte, sich aber regelmäßig mit peinlichen Aussetzern aufs Abstellgleis manövrieren konnte. Er hatte den Polen mitgebracht, der Einzige, der nicht mit den anderen auf der Schule gewesen war. Er hatte gerade seine Lehre als Automechaniker abgeschlossen und somit auch vor einem Neubeginn gestanden. Zu guter Letzt hatte noch Psycho mit zur Gruppe gehört, ein Streber, der sein Abitur mit Bestnote bestanden und als einziger eine klare Vorstellung von seiner Zukunft als Psychologe hatte. Er war in der Gruppe integriert gewesen, trotz seiner schon immer zarten Natur. Dies war auch der Grund gewesen, warum er heute, am vorletzten Abend, nicht dabei sein konnte. Er lag, voll gepumpt mit Medikamenten gegen seinen Durchfall, auf seiner Isomatte im Nebenraum und bekam von all dem Gegröle nichts mit.

Später am Abend hatten sich Benny, der Pole, Django und Can noch einen Wettkampf im Armdrücken geliefert. Ermutigt durch reichlich Alkohol und angefeuert durch das ebenso angetrunkene Publikum hatten sie den Einsatz immer mehr gesteigert, bis zuletzt Glasscherben unter ihren Handrücken gelegen und dem jeweiligen Verlierer die Haut aufgeritzt hatten. Nur Jenny und Brille hatten sich mit der Euphorie zurückgehalten, wohl auch der Müdigkeit, bedingt durch den Raki, geschuldet.

Nick hatte weiter gehofft die schöne Ceren noch einmal zu sehen, aber das Mädchen war auf Geheiß ihres Vaters der Feier fern beblieben, und so hatte auch er sich der Wirkung des Anisschnapses hingegeben, um sein Verlangen zu vernebeln.

Keiner der Anwesenden war gegen Mitternacht noch in der Lage gewesen halbwegs gerade die Schlafstätten aufzusuchen, selbst der Gastgeber und sein jugendlicher Sohn waren sichtlich betrunken gewesen. Im Trinkduell zwischen dem Polen und Youssouf hatte es keinen klaren Sieger gegeben, die unzähligen, geleerten Flaschen Raki aber von einem harten und langen Wettkampf gezeugt.

Während alle Gäste in dem großen Schlafraum schon auf ihren Matten, teilweise aber auch direkt daneben auf dem Lehmboden, eingeschlafen waren, hatte Nick noch auf seiner Schlafstätte gelegen und gedankenverloren ein Kaugummipapier zu einem Knoten gefaltet. Es war eine seltsame Eigenart von ihm, jegliches Abfallpapier, das er in die Finger bekam, zu verknoten, besonders dann, wenn er sehr aufgeregt oder nachdenklich war. Er hatte an die Decke gestarrt, irgendein Tier war dort auf der Jagd nach Insekten gewesen, aber aufgrund der Dunkelheit und seines durch den Raki beeinträchtigten Sehvermögens war es dem jungen Mann nicht mehr möglich gewesen, Genaueres zu erkennen.

Plötzlich hatte er ein leises Geräusch gehört, es hatte geklungen wie ein Schleifen von Stoff über dem Boden. Langsam hatte Nick sich aufgerichtet, sein Kopf dem Bersten nah. Dann hatte sich die Türklinke bewegt und die Türe wurde ein wenig geöffnet. Irgendjemand hatte durch den Spalt gelugt, aber Nick hatte nichts erkennen können, immer noch war sein Blick vom Alkohol getrübt gewesen. Dann war die Türe noch weiter aufgeschoben worden und jemand in den Raum gehuscht. Die Person war auf leisen Sohlen direkt auf den jungen Mann zugekommen und noch bevor er hatte reagieren können, hatte sich eine zarte Hand auf seinen Mund gelegt. Jetzt erst war das Gesicht des Eindringlings zu erkennen gewesen, Ceren. Ihre andere Hand hatte die Nicks ergriffen und ihn auf die Beine und in Richtung Tür gezogen. Sein Schädel hatte fürchterlich gebrummt, aber allein die zärtliche Berührung dieser warmen, weichen Hand war motivierend genug gewesen, all seine Kräfte zu mobilisieren und dem Mädchen leise zu folgen. Die beiden waren lautlos aus dem Raum geschlichen, dann weiter über den Flur zum Ausgang. Ceren hatte ihn wortlos aus dem Haus und in den benachbarten Stall geführt. Jetzt erst hatte sie seine Hand losgelassen und ihr Tuch vom Kopf gezogen. Ihr langes schwarz glänzendes Haar war zu einem Zopf gebunden und hatte ihrem zauberhaften Gesicht den passenden Rahmen gegeben. Sie hatte gelächelt und ihre Hand auf Nicks Wange gelegt. Er hatte geglaubt zu träumen und nicht wirklich gewusst, wie ihm geschah. Dann war das Trommeln in seinem Kopf immer heftiger geworden und er hatte sich unwillkürlich an die Schläfen gefasst. Besorgt hatte ihn das Mädchen angeschaut, dann war sie kurz verschwunden, um sich nach wenigen Augenblicken erneut neben ihn zu knien. Als sie Nick ihre Hand entgegen gestreckt hatte, war darin ein kleines, transparentes Tütchen mit ein paar zerstoßenen Kräutern zu erkennen. Sie hatte ihm zugenickt und unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass ihm dieses Medikament zerkaut helfen würde. In diesem Moment hätte Nick alles genommen, nur um diesen Augenblick genießen zu können und so hatte er das Pulver der getrockneten Blätter und Stängel trotz widerwärtigem Geschmack geschluckt. Ceren hatte ihn zärtlich gestreichelt und es hatte auch nicht lange gedauert, bis sich Nick tatsächlich besser gefühlt hatte. Und dann hatte sie ihn leidenschaftlich geküsst, so wie er es noch nie erlebt hatte.

Und dann? Er wusste es nicht mehr.

»Jetzt sag doch endlich, was passiert ist«, hörte er erneut eine flehende Stimme rufen, es war die von Psycho, der inzwischen auch eingetroffen war.
     Nick verstand immer noch nicht, was passiert war und blickte sich um. Dort standen alle seine Freunde und starrten wie gebannt auf ihn und an ihm herunter. Jetzt erst folgte Nick ihren Blicken. Er saß an eine Bretterwand des Stalles gelehnt und auf seinem Schoß lag Ceren, regungslos und blutüberströmt. Unwillkürlich zuckte er zusammen. Ihr Kleid war zerfetzt von mehreren Einstichen. Nick starrte sie ungläubig an und griff nach ihr. Dabei fiel ihm ein Gegenstand aus der Hand, den er unbewusst die ganze Zeit fest umklammert hielt. Das breite Messer fiel zu Boden, noch feuchtes Blut tropfte von der rot gefärbten Klinge auf ein verknotetes, transparentes Tütchen.

In diesem Moment stürzten die Eltern des Mädchens herein und die Mutter begann lauthals zu schreien. Sie entriss ihre Tochter Nicks Händen und drückte den leblosen Körper an ihre Brust. Schluchzend und wehklagend wiegte sie die tote Ceren, ihr verzweifelt wütender Blick richtete sich abwechselnd auf Nick und gen Himmel, wo sie Allah um Erklärung anflehte.

Youssouf wiederum ergriff unvermittelt und scheinbar ohne Gefühlsregung einen an einem Pfosten hängenden Hammer und stürzte auf Nick zu. Dieser sah nur noch, wie Benny hervorsprang, um den aufgebrachten Vater davon abzuhalten seinem Freund den Schädel einzuschlagen. Doch schon sauste das schwere Werkzeug auf ihn herab.

Und noch ehe Nick verstand, was tatsächlich passiert war, wurde es mit einem dumpfen Schlag wieder dunkel um ihn herum.

 

 

„look back again“ (2015)

 ...   An diesem Abend ging Dimitri früh ins Bett, machte seine Nachttischlampe an und holte das Tagebuch seines Urgroßvaters unterm Bett hervor. Dort hatte er es sicherheitshalber versteckt, bevor sein Vater doch noch auf die Idee kam, es zu entsorgen.

   Zunächst betrachtete er das Lesezeichen ganz genau. Es sah irgendwie fremdartig und mysteriös aus. Wie von einer anderen Welt. Diese seltsame Gravur auf dem Leder und der transparent funkelnde Stein, der in den Faden eingebunden war. Dimitri untersuchte ihn sorgfältig. Es war eigentlich mehr ein Kristall, so groß wie seine Fingerkuppe und im Licht seiner Lampe schimmerte er in den schönsten Farben, manchmal sah es sogar so aus, als würde dieser Kristall winzige Funken versprühen, die dann wieder von ihm selbst eingesaugt wurden. War das vielleicht sogar ein Edelstein, oder gar ein Diamant? Dimitri hatte darüber gelesen und je mehr er diesen Stein betrachtete, desto mehr zog er ihn in seinen Bann. Und dann dieser kyrillische Spruch, was er wohl bedeuten mochte? Behutsam legte er das Lederband zur Seite.

   Dann nahm er das Buch in Augenschein. Dimitri las gerne und viel, am liebsten phantastische Märchen oder spannende Geschichten, aber auch Reiseberichte von irgendwelchen Forschern, die um die Welt fuhren und fremdartige Dinge entdeckten. Leider hatte die Familie nicht so viele Bücher. Viele waren im Krieg vernichtet worden. Andere waren schwer zu besorgen oder teuer. Und viele Bücher der Stadtbücherei kannte er schon. Er hätte gern noch viel mehr gelesen, insofern kam ihm das alte Buch Anatolijs gerade recht. Es war ihm egal, wie viel darin nun wahr war und wie viel erfunden. Vielleicht war es ja spannend oder lustig.

  Schon das Äußere war vielversprechend, auch wenn es nicht sonderlich dick war. Der lederne Einband war teilweise zerfressen und verdreckt, so mussten früher Logbücher von Piratenschiffen ausgesehen haben, in denen Schatzkarten oder geheime Botschaften versteckt waren. Vielleicht war ja auch der Stein ein Teil eines riesigen Schatzes, den er vielleicht eines Tages finden würde. Dann könnte er auch sein Versprechen einhalten, das er seinen Eltern heute am Essenstisch gegeben hatte.

  Nun wollte der Junge sich dem Inneren des Buches widmen. Langsam schlug er es auf, dennoch rutschten ihm die ersten Seiten schon entgegen. Schnell klappte Dimitri das Buch wieder zu. Er drehte sich auf den Bauch, legte das Buch neben sein Kopfkissen und sortierte sorgfältig Blatt für Blatt wieder ein. Dann begann er zu lesen, wenn ihm auch die krakelige Handschrift etwas zu schaffen machte. Zeile für Zeile, Seite um Seite verschlang er die Sätze und Anmerkungen, die der alte Mann hinterlassen hatte.

  Es war kein Tagebuch im eigentlichen Sinne. Mehr eine Erzählung einer unglaublichen Geschichte. So wie Dimitri es verstand, hatten die Eintragungen erst begonnen, als der alte Mann schon um die siebzig gewesen war. 

  Sie erzählten von einem arabischen Händler, dessen Onkel ihn zu dem alten Anatolij geschickt hatte. Er hatte aus einem Überfall auf einen reichen arabischen Prinzen einige Kostbarkeiten dabei, welche Dimitris Urgroßvater irgendwohin weiterverkaufen sollte, unter anderem einen ganzen Beutel voller magischer Kristalle. Offenbar war Anatolij so etwas wie ein Zwischenhändler von Diebesgut gewesen.

  Jetzt erinnerte sich Dimitri an die mahnenden Worte seines Vaters zum Wahrheitsgehalt dieses Buches. Es klang alles so verrückt und unwahrscheinlich, eine richtige Räubergeschichte. Wie eben eines der Märchen, die Dimitri sonst las. Er stellte sich Ali Baba und die vierzig Räuber vor, sah sich selbst als denjenigen, der eines Tages mit der Aufforderung „Sesam, öffne dich!“ den unglaublichen Schatz finden würde.

  Egal, sagte sich der Junge nochmals. Ob wahr oder nicht, spannend ist es allemal. 

  Und er las weiter. 

  Wie der Dieb vom Geheimnis der Kristalle erzählt hatte. Und wie dieser dann unter mysteriösen Umständen verschwand und erstochen aufgefunden wurde, noch ehe der Handel zustande kam. Wie Anatolij aus Angst die Steine, die der Araber ihm dagelassen hatte, im Garten versteckt hatte. 

  Dimitri hatte feuchte Hände, so sehr fieberte er mit seinem Urahn mit und verfolgte die unglaubliche Geschichte Stück für Stück. 

  „Dimitri, mein Schatz, es ist Zeit zu schlafen!“, riss ihn die Stimme seiner Mutter aus seinem Abenteuer. „Mach das Licht aus. Du kannst morgen weiterlesen!“ 

  „Morgen, morgen!“, brummte Dimitri. Wie konnte er ausgerechnet jetzt aufhören, diese Geschichte weiter zu verfolgen. An Schlaf war ohnehin nicht zu denken. Alles, was den Jungen beschäftigte, war der Fortgang von Anatolijs Abenteuer. Und jetzt auch von seinem Abenteuer. Denn er war sich nun sicher, dass der Stein, der in das Lesezeichen einflochten war, einer der magischen Kristalle aus dem Schatz des arabischen Prinzen war. 

  Wieder rief seine Mutter mahnend die Treppe herauf. Dimitri kramte in der Nachttischschublade und fand seine Taschenlampe. Hoffentlich funktionierte sie noch lange genug. Ersatzbatterien hatte er keine und das Buch hatte er gerade erst einmal zur Hälfte durch. Er schaltete die Taschenlampe ein und die Nachttischlampe aus, dann verkroch er sich mit dem Buch unter die Bettdecke und tauchte wieder in sein Abenteuer ein. 

  Nachdem Anatolij seinen Schatz vergraben hatte, folgten zunächst keine Einträge mehr in seinem Buch, bis auf einen kurzen Satz circa zwölf Monate später, indem er seine Erleichterung niedergeschrieben hatte, dass man ihm wohl nicht auf die Spur gekommen war. 

  Erst viele Jahre später, 1934, hatte Anatolij das Tagebuch wieder zur Hand genommen und weiter geschrieben. Er hatte offenbar einen Vertrauten gefunden, dem er seine unglaubliche Geschichte anvertraut hatte und mit dem er gemeinsam einen Weg zu finden suchte, die Magie der Kristalle zum Leben zu erwecken. 

  Jetzt wurde die Geschichte völlig verrückt. Anatolij beschrieb, wie dieser Vertraute, ein Uhrmacher, es geschafft hatte, die Kristalle so anzuordnen, dass damit ein Blick in die Vergangenheit möglich wurde. 

  Dimitri hielt inne und schüttelte den Kopf. Bislang hatte die Geschichte zwar abenteuerlich geklungen, aber irgendwie noch ein bisschen realistisch. Oder zumindest hoffnungsvoll. Jetzt aber war wohl die Fantasie des Alten komplett mit ihm durchgegangen. Etwas enttäuscht klappte der Junge das Buch zu. Er legte das Buch zurück unter sein Bett und die Taschenlampe auf den Nachttisch. 

  Mit gerunzelter Stirn legte sich Dimitri zurück und starrte in die Dunkelheit. Spannend war diese Geschichte schon und er würde das Buch auch sicher bis zum Ende lesen, aber der Wunsch an dem Abenteuer teilzuhaben, den er eben noch gehegt hatte, hatte sich plötzlich in Luft aufgelöst. Der Traum von der Entdeckung des Schatzes war geplatzt in dem Moment, als die Geschichte dann doch zu utopisch geworden war. 

  Nein, es war wohl doch nur die Unfähigkeit eines alten Spinners Wahrheit und Fantasie auseinander zu halten.

  Irgendwie schade!

Dimitri legte sich auf die Seite und kuschelte sich in sein Kopfkissen. Nur wenige Sekunden später war er eingeschlafen. 

  In der Nacht aber schlief der kleine Dimitri unruhig. Er träumte wie er durch den Garten auf das Feld hinter dem Haus lief, weg von seinem sicheren Zuhause. Er lief und lief, immer weiter, bis er plötzlich vor einem gewaltigen Felsen stand. Er blickte sich um, doch um ihn herum war nur noch Wald. Noch nie zuvor war er hier gewesen. Er starrte den riesigen Steinbrocken an. Ohne nachzudenken schrie er der Felswand die magischen Worte auf dem Lederband entgegen: „Blick zurück, doch nur mit den Augen!“, und vor ihm öffnete sich eine Höhle gigantischen Ausmaßes. Zögernd trat er ein und blickte auf ein Meer von Goldmünzen und Edelsteinen. Kilometerweit glitzerte und funkelte es. In der Mitte schwebte nur knapp darüber ein fliegender Teppich und auf ihm lag ein kleines Säckchen, was eigenartig schimmerte. In der Ferne sah er seine Eltern, die heftig ihre Arme schwenkten und ihm etwas zuriefen, das er aber nicht verstehen konnte. Sein Vater hielt das alte Tagebuch in der Hand und die Seiten rutschten heraus und fingen Feuer. 

  Mühsam kämpfte Dimitri sich durch den Goldschatz zu dem Teppich mit dem Beutel vor und öffnete ihn vorsichtig. Darin kamen Diamanten zum Vorschein, die in allen Farben funkelten. Er nahm eine Handvoll heraus und legte sie in einem Kreis auf dem kostbaren Teppich aus. Augenblicklich begannen sie zu leuchten und zu blitzen und in der Mitte des Kreises entstand wie von Zauberhand ein Bild. Bei genauerem Hinsehen war dort ein alter Mann zu erkennen, der sich als Anatolij vorstellte. Er winkte Dimitri freundlich zu und lachte. Dann plötzlich verfinsterte sich seine Miene und er signalisierte seinem Urenkel sich umzudrehen. Als der Junge hinter sich blickte, sah er vierzig bärtige Männer in Turbanen und mit gezückten Dolchen auf ihn zustürmen. Ihr Anführer hatte den längsten Bart und trug ein goldenes Amulett in Form eines Kobrakopfes um den Hals, dessen Rand mit den gleichen leuchtenden Edelsteinen besetzt war, wie sich in dem Sack befanden. Die Räuber stürzten sich auf Dimitri und hielten ihn am Boden fest. Der Junge wehrte sich nach Leibeskräften, hatte aber gegen die starken Arme der Turbanträger keinerlei Chance. 

  Der Anführer starrte ihn aus tiefschwarzen und zugleich funkelnden Augen an und rief: „Du Dieb!“ 

  Dimitri blickte aus unschuldsvollen und flehenden Augen und versuchte zu sprechen, aber seine Kehle war wie zugeschnürt. Keinen Ton brachte er zu seiner Verteidigung heraus. 

  Dann hob der Araber mit dem Amulett seinen goldenen Krummsäbel an und ließ ihn über dem Hals des Jungen nach unten schnellen.

  In diesem Moment wachte Dimitri schweißnass auf und wusste augenblicklich, dass ihn dieser Traum sein Leben lang verfolgen würde!



 

„look back“ (2013)

 Es war kein verheißungsvolles Klopfen. So klopfte keiner, der auf einen Kaffee oder einen Pernod vorbeikam. 

  Sonst klang alles wie gewohnt an diesem sonnigen Maimorgen. Die Vögel zwitscherten durch das offene Fenster von den blühenden Obstbäumen im Garten. Die Autos knatterten auf der Rue de l’Auvergne und das gelegentliche Hupen ihrer Signalhörner störte schrill die sonst so friedliche Szenerie.

  Es war eigentlich ein ganz normaler Morgen, so wie jeder andere. Aber nicht für den alten Jean-Pierre, denn dieser Morgen hatte bereits einige Ereignisse hervorgebracht, die alles andere als normal waren. Gestern schon fing alles so erfolgversprechend an. Die ganze Nacht hatte der hagere alte Mann an seinem Werktisch gearbeitet, nachdem er am Vorabend den Durchbruch förmlich gespürt hatte. Jahre der Forschung, des Experimentierens, der Aufopferung für sein ganz persönliches Projekt. Die Entdeckung, die die Welt verändern könnte. Nur ob zum Guten war Jean-Pierre noch nicht ganz klar. Darüber grübelte er schon, seitdem er an seiner Erfindung gearbeitet hatte. Seitdem er diese alten Aufzeichnungen gesehen und das wirre Gefasel seines russischen Nachbarn von Kristallen im Garten gehört hatte. Seitdem er genau diese Kristalle in dem Gartenversteck des greisen Russen und deren Geheimnis entdeckt hatte. Seitdem er die Puzzleteile entziffert und mit mikroskopisch, chirurgischer Feinarbeit all die Schräubchen und Zahnrädchen zusammengesetzt hatte.

  Und ganz besonders seit diesem Morgen, nachdem er seine Erfindung, dieses Wunderwerk, an mehreren Beispielen erfolgreich ausprobieren konnte.

  Da lag es nun, sein Schmuckstück. Jean-Pierre sah es liebevoll an, seine dünnen aber immer noch nicht zittrigen Finger streichelten jedes Teilchen seines Werkes. Es war nicht wirklich verziert mit Gold und Silber wie die anderen Exemplare dieser Zeit, dabei auch noch relativ groß und wuchtig, sonst aber eher schlicht. Auffällig war jedoch die offene Mechanik mit dem ungewöhnlichen Spiegel im Zentrum, die das ganze eher wie eine winzige Maschinerie erscheinen ließ, als ein Exemplar zeitgenössischen Herrenschmucks. Nur die warnenden Worte des russischen Wirrkopfes aus dem Nachbarhaus hatte er zu seinem Gedenken in kunstvoller Form auf den Rand graviert. Dabei hatte dieser Jean-Pierre eindringlich von seinem Vorhaben abbringen wollen, er solle nicht in Gottes Handlungen eingreifen, jeder Mensch sollte sich nur auf seine eigenen Erinnerungen konzentrieren. Aber der alte Uhrmacher war wie besessen von dem Gedanken, etwas Einzigartiges zu erschaffen, etwas, was die Welt noch nicht gesehen hatte. Etwas, was vielleicht genau diese Welt auch etwas friedlicher machen könnte. Eventuell konnte es aber auch genau das Gegenteil bewirken.

  Seitdem Cartier vor kurzem das Tragen solcher Uhren am Handgelenk modern gemacht und sein alter Kollege Harwood eine Automatik hierfür erfunden hatte, war es angesagt, solche Prachtexemplare nicht mehr in der Westentasche zu verstecken, sondern seinen Wohlstand, Klasse und Eleganz etwas offener zur Schau zu stellen.

  Aber dieses Prachtstück unterschied sich von allem bisher Dagewesenen. Nicht nur, dass es auch ein achtstelliges Datum anzeigen konnte, die wirkliche Revolution lag in einer kleinen zusätzlichen Funktion einer zweiten Krone, die mit der reinen Zeitmessung nur noch sehr wenig zu tun hatte.

  Neben seiner kleinen Enkelin hatte der alte Mann bisher nur einem einzigen Menschen sein Geheimnis in Teilen offenbart. Seinem alten Freund und Gönner Jacques Renard, einem Pariser Juwelier, den er vor zehn Jahren kennengelernt hatte, als er aus Genf an die Seine gekommen war. Jean-Pierre hatte seither für ihn gearbeitet, aber obwohl seine Arbeit für den Juwelier seit einiger Zeit nicht mehr so umfangreich war, hielt dieser doch an ihm fest, nicht zuletzt auch aus Interesse an seiner wissenschaftlichen Tüftelei. Jacques hatte erkannt, welches Talent in dem hageren Uhrmacher steckte. Sie waren auch privat eng verbunden und sie konnten über Alles miteinander reden. Und so erfuhr Jacques auch von dem Durchbruch in Jean-Pierres Forschung, besonders als es in der letzten Nacht so aussah, als hätte es der alte Tüftler endlich geschafft. Jean-Pierre war zu Jacques hinübergelaufen und hatte ihm voller Euphorie von seiner Entdeckung erzählt. Sie hatten nur kurz miteinander gesprochen, aber Jacques erschien an diesem Abend so abwesend, so reserviert, anders als gewöhnlich. Aber mehr Gedanken daran zu verschwenden schien dem alten Schweizer unnötig, wo er doch gerade mitten in der Entdeckung des Jahrhunderts steckte und schnell zurück zu seiner Arbeit wollte, um sie endgültig zu testen.

  Erst jetzt, als es unten abermals heftig an seine Tür pochte, kamen diese Gedanken zurück und er stellte instinktiv eine Verbindung dieser Ereignisse her, wunderte sich plötzlich über Jacques’ Interesse an seiner Arbeit und derer Unterstützung. Bei näherem Nachdenken erschien Jean-Pierre das Ganze aber doch zu absurd.

  Das Hämmern an der Tür wurde kräftiger. Wer konnte das nur sein? Die Polizei hätte bestimmt das Klopfen mit einem Ruf oder einer Aufforderung bekräftigt. Eventuelle Gläubiger hatte er nicht. Hatte das alles mit seiner Entdeckung zu tun? Wollte ihm etwa jemand seinen Erfolg streitig machen? Aber wer konnte davon wissen? Die Gedanken schossen ihm durch den Kopf, alles schien sich zu drehen. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Er wusste nur, die Uhr musste in Sicherheit gebracht werden. Aber wenn sie nun doch jemand fände? Nein, das durfte nicht passieren. Sie musste zerstört werden, bevor sie in falsche Hände geriet. Trotz all seiner Bedenken, war ihm bisher nie der Gedanke gekommen, dass dieser Moment so schnell kommen könnte. Insofern hatte er auch keinen vorbereiteten Plan.

  Das Klopfen wurde lauter und wilder – jetzt rüttelte jemand an der Tür. Es klang nicht so, als würde dieser Jemand lange auf ein freundliches Öffnen der Türe warten. Jean-Pierre musste handeln. Aber die Uhr komplett zu zerstören bedeutete den Verlust jahrelanger Arbeit, sollte er das riskieren? Er nahm die Apparatur und schraubte die zweite Krone vorsichtig ab – den Mechanismus und den Spiegel wollte er dann nun doch nicht beschädigen. Vielleicht war ja doch alles nur falscher Alarm. Er legte die Krone zu den anderen Kleinteilen, die auf seinem Arbeitstisch herumlagen und lief mit der Uhr schnellen Schrittes auf den Flur, um ein geeignetes Versteck fernab des Arbeitszimmers zu entdecken.

  In diesem Moment flog unter lautem Krachen die Haustür auf. Splitter flogen durch den Eingangsraum und zwei Männer stürmten in das Haus. Vom oberen Treppenabsatz sah der Uhrmacher die Szenerie und es durchfuhr ihn augenblicklich massive Angst und lähmte sein Bewusstsein. Die Eindringlinge riefen nun laut seinen Namen. Dadurch rappelte er sich wieder auf und kletterte schnell auf den Dachboden. Eine alte Kiste, die mit nicht mehr benötigten Spielsachen seiner längst aus dem Haus ausgezogenen Tochter gefüllt war, schien ihm in der Eile als Notunterbringung geeignet. Er schob die Uhr schnell unter das Kleid einer alten Puppe, verschloss die Kiste und warf eine alte, verstaubte Wolldecke darüber. Später würde er sich dann überlegen müssen, wo er ein ideales und sicheres Versteck zu suchen hätte.

  Schnell kletterte er den Stieg in den ersten Stock wieder herab. Auf dem Flur angekommen stand ihm unvermittelt einer der in dunkle Mäntel gekleideten Männer gegenüber.

  „Wo ist sie?“, stieß dieser barsch aus.

  „Wovon sprechen sie?“, war alles, was der Schweizer stotternd herausbrachte. „Und was wollen sie in meinem Haus?“

  Statt einer Antwort rief der Mann seinen Kumpanen herbei und schnappte Jean-Pierre beim Revers. Dieser sah nur noch aus dem Augenwinkel, wie die andere Hand des finsteren Eindringlings zu einer Faust geballt auf ihn einkrachte. Weitere Schläge folgten an den Kopf, in die Magengrube und als er zusammengesunken auf dem Boden lag, spürte er Tritte von schweren Arbeitsstiefeln im Rücken und am Schädel. Immer wieder brüllten die Männer die einzige Frage, die er um keinen Preis der Welt beantworten wollte: „Wo ist die Uhr?“

  Unter dem Stakkato der Tritte verlor er das Bewusstsein. Ein Nebel umschloss ihn und er verspürte keine Schmerzen mehr. Wie im Zeitraffer schossen die Erinnerungen durch seinen Kopf. Er sah seine Ehefrau, die ihm viel zu früh durch eine Lungenentzündung entrissen wurde, seine Tochter als kleines Mädchen, dann als erwachsene Frau im Kindbett mit seiner Enkelin im Arm, der kleinen Fernande, die er so liebte und die ihm so gern bei seinen Arbeiten zusah. Alle waren sie bei ihm. Aber genauso schemenhaft, wie sie erschienen waren, verschwanden sie auch wieder.

  Das erste, was Jean-Pierre hörte, als er wieder zu sich kam, waren wiederum die Stimmen der beiden dunklen Gestalten in seinem Haus. Wie aus der Ferne drangen sie langsam zu ihm und das Bewusstsein und die Erinnerung an das Geschehene kehrten allmählich zurück. Aber auch der Schmerz. Er spürte, dass seine Knochen nicht mehr in der gottgegebenen Form waren und die flüssige Wärme die ihn umgab, ließ ihn erahnen, dass er in seinem eigenen Blut lag. Als sich der Schleier mehr und mehr hob, wurden auch die Stimmen deutlicher. Er konnte aus den Rufen folgern, dass die Männer die Uhr noch nicht gefunden hatten.

  Instinktiv blieb er reglos liegen, er hätte sich ohnehin nicht viel bewegen können. Aber er wusste, dass seine einzige Chance weiteren Schmerzen zu entgehen war, so zu tun, als hätten die Schläger ihr tödliches Werk bereits vollendet. Schon hörte er, wie sich schwere Schritte auf dem Holzboden näherten und hielt die Luft an. Seine blutgetränkten Augen brannten, aber er versuchte auch nur das geringste Zucken zu vermeiden.

  „Der sagt uns nichts mehr!“, war eine der Stimmen zu hören.

  „Das war deine Schuld! Wir hätten es vorher aus ihm rausquetschen sollen.“ Das war der andere, der nicht minder feindselig klang. „Jetzt finden wir das Ding nie!“

  Ein letzter Tritt erschütterte Jean-Pierres Leib, so als wollte der Schläger auch wirklich sicher sein, dass der alte Mann sich nicht mehr regte. Der Uhrmacher verkniff sich unter Schmerzen einen Laut von sich zu geben und biss die Zähne aufeinander.

  Dann entfernten sich die Schritte wieder. Erst auf dem Flur, dann die Treppe hinunter. Kurz darauf war es still. Die Männer mussten das Haus verlassen haben.

  Jean-Pierre lag noch eine Weile bewegungslos da, um sich zu versichern, dass er auch wirklich alleine war. Die Schmerzen in seiner Magengegend und das Pochen im Kopf wurden immer stärker, ein taubes Gefühl machte sich allerdings in seinen Beinen breit. Er wollte sich aufrichten, doch er war nicht in der Lage dazu. Seine untere Körperhälfte schien er gar nicht mehr kontrollieren zu können und sein Kopf fühlte sich an, als stünde er kurz vor dem Zerbersten. Der alte Uhrmacher wusste, dass seine letzte Stunde auf dieser Welt angebrochen war. Sein alter Körper war geschunden. Er wusste, diese Männer würden sein Leben auf ihrem Gewissen haben. Aber sein Geist war noch wach. Er hatte noch eine Aufgabe zu vollbringen.

  Seine Entdeckung, sein größter Schatz, dem er sein halbes Leben gewidmet hatte, durfte nicht in einer Spielzeugkiste verstauben. Er wollte sein Geheimnis weitergeben. Aber nicht irgendwem. Vielleicht musste auch erst etwas Gras über Alles wachsen, vielleicht war die Welt einfach noch nicht reif für ein Wunder. Seinem Freund Jacques vertraute er nicht mehr, irgendetwas sagte ihm, dass er für den Überfall verantwortlich war. Niemand sonst hätte etwas von seiner Arbeit wissen können. Nein, nur Fernande, sein unschuldiger kleiner Engel sollte die Erbin seines Schatzes sein. Sie war gerade einmal acht Jahre alt, aber schon so wissbegierig und clever. Sie hatte die Intelligenz und die Neugier ihres Großvaters in ihren Genen. Sie war es auch, die er ursprünglich als erste an seinem Abenteuer teilhaben lassen wollte. Nun würde es seine Enkelin alleine bestreiten müssen. Der Tag würde kommen, an dem sie wüsste, was zu tun sei. An dem sie sein Vermächtnis der Welt offenbaren würde.

  Aber wie sollte er sie informieren ohne gleichzeitig seine Verfolger auf ihre Spur zu setzen?

  Seine Kraft wich aus seinen Armen, auf die gestützt er versuchte sich vorwärts zu bewegen. Allzu weit kam er so nicht, das wusste er. Geschweige denn die Treppe hinunter und bis zur Straße, wo er um Hilfe rufen konnte. Das Telefon hing ebenfalls unten im Flur an der Wand und somit für ihn unerreichbar. Die Zeit lief ihm davon, in seiner Sanduhr verblieben nur noch wenige Körner. Und die Schmerzen ließen ihn immer wieder zusammensacken. Er versuchte sich umzublicken. Erst jetzt sah er die Verwüstung, die seine Mörder hinterlassen hatten. Sie waren durchaus gründlich gewesen. Nichts war mehr an seinem Platz, Möbel ausgeräumt und teilweise zerschlagen, das ganze Haus sah aus wie nach einem Wirbelsturm. Er hatte keine Ahnung, wie lange er dort bewusstlos gelegen hatte und wie lange die zwei Eindringlinge in seinem Haus gewütet hatten. Trotzdem hatten sie seinen Schatz offensichtlich nicht geborgen.

  Sein Blick fiel auf eine Zeitung, die blutgetränkt neben ihm lag. Er riss mit letzter Kraft eine noch saubere und überwiegend unbeschriebene Ecke ab und suchte nach etwas zu schreiben. Ein kleiner Schraubenzieher lag glücklicherweise nicht allzu weit entfernt in einem Haufen aus Überresten seines Schreibtischs. Tinte wiederum war nicht zu sehen. Das einzige Flüssige in seiner Reichweite war die Blutlache, die zum Teil noch nicht ausgetrocknet war, da sie immer weiter durch die breit klaffende Wunde an seiner Schläfe gespeist wurde.

  Und so schrieb Jean-Pierre seine letzten Worte mit seinem eigenen Blut, als Botschaft für ein kleines Mädchen, die ein schweres Erbe übernehmen sollte.

  Falls dieses Mädchen die Botschaft jemals verstehen würde…


 
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